Two roads diverged in a wood, and I – I took the one less traveled by, and that has made all the difference. (Robert Frost)
Die Grande Traversata delle Alpi – kurz GTA – gilt als abenteuerlichste Alpenüberquerung überhaupt. Auf wilden einsamen Pfaden führt vom nördlichsten Zipfel des Piemont in der Schweiz der Weg über alte Schmuggler- und Saumpfade fern vom Alpentourismus über Pässe und urige Bergdörfer bis ans Mittelmeer. Tausend Kilometer lang ist die gesamte Strecke. Auch wenn ich meinen Plan diese Entfernung komplett zu meistern unterwegs aufgeben musste, so habe ich doch das Gefühl, die schönsten Etappen gelaufen zu sein. Dies ist ein kleiner Tourenbericht zum Trekking mit Hund auf der GTA – eine Reise ans Ende der Welt.
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Tagebucheintrag Samstag, 11. Juli 2020
Ein letztes Winken aus dem Autofenster, eine letzte Träne auf der Wange – dann war der VW-Bus hinter der nächsten Serpentine nicht mehr zu sehen. Ich drehe mich um und entschwinde in Nebelschwaden und Nieselregen zur schweizerisch-italienischen Grenze.
Vom Nufenenpass in der Schweiz begebe ich mich bei mistigem Wetter auf die ersten Kilometer der GTA. Viele Gedanken und Sorgen schwirren in meinem Kopf herum – ein unvorstellbar lange Zeit werde ich nun allein mit meinem Hund entlang des italienischen Westalpenbogens bis zum Meer laufen. Doch so oft im Leben kommt es etwas anders wie geplant…
Die ersten Tage vergingen wie im Flow. Solch eine grandiose Berglandschaft, rau und wunderschön, einsam – ich kam mir vor wie in Kanada. Ich schwebte dahin und Kilometer mitsamt Höhenmeter zerflossen unter meinen Füßen. Der Rucksack war noch gefüllt mit Lebensmittelvorräten, das Wetter perfekt und langsam, langsam ackerten wir uns jeden Tag weiter gen Süden vor.
Nach einem anstrengenden Tag mit 2200 Höhenmetern hoch und runter und 29 Streckenkilometer legten wir (also mein Hund und ich) einen Ruhetag in einem Biwak ein. Draußen waberte graue nasskalte Suppe, drin lag ich in meinem Schlafsack und las. Mexx schnarchte – wir träumten beide von Essen… 😉 Die GTA führt anfangs durch die Lepontinischen Alpen, ein kurzer Abstecher nach Gondo in der Schweiz und durch den atemberaubenden Naturpark Alpe Veglia – Devero. Hochtäler, Wasserfälle, kristallklare Bergseen, hunderte von Murmeltieren… man findet kaum Worte um diese Schönheit zu beschreiben.
Tagebucheintrag Sonntag, 19. Juli 2020
Der Morgentau schwimmt in den Schuhen, Spinnweben im Gesicht, Alpenrosen und andere Dornensträucher zerkratzen mir die nackten Beine. Auf dem Pass hoch oben erreicht mich der erste Sonnenstrahl. Ein Trampelpfad – das muss doch der richtige Weg sein? Ich schlage mich durch kopfhohes Gestrüpp, Äste peitschen meine Wangen, Dornen hinterlassen Schrammen. Ein Blick aufs GPS: ich bin von meinem Weg abgekommen, stecke in einer Sackgasse. Also zurückkämpfen auf die kleine Pfadspur und eine neue Richtung wählen. Ein paar Wanderer kommen mir entgegen. Ich sehe, wie es in ihren Köpfen arbeitet, wenn ich sage, ich gehe bis Ventimiglia (und dann wieder zurück 😉), kurz darauf weiten sich die Augen. Einige Schritte weiter höre ich sie auf Italienisch sagen (was ich viele fragen höre): Ist das eine spirituelle Reise? Warum ist sie allein?
Tja, was heißt auf italienisch: Das Leben ist kein Wunschkonzert?
Durch das Simplongebiet und das unbekannte Hinterland von Domodossola wandeln wir auf teilweise sehr schmalen, abgerutschten und zugewachsenen Pfaden Richtung Meer. Andere Wanderer treffe ich kaum – da ich im Zelt schlafe, teilen wir nicht die gleichen Tagesetappen und Unterkünfte. So manch eine Nacht verbringe ich in Biwaks, kleinen Selbstversorgerholzhütten hoch oben in den Bergen. Ich sitze abends vor der Hütte und lasse meinen Blick über die Landschaft streifen oder zelte an einem traumhaften Bergsee auf 2400 m Höhe – wie schrieb einst Goethe?
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
Tagebucheintrag Dienstag, 21. Juli 2020
Ich sitze still in diesem Bergparadies, ganz allein nur mit der Fellschnauze und beobachte, wie sich die Wolken zu einem Gewitter auftürmen, wie eine schwarze Wand über den Bergkamm drückt und spüre die Vibration des Donnergrollens in meinem Körper. Wir flüchten ins Zelt als zentimetergroße Hagelkörner herabprasseln, ich beruhige Mexx, der verschreckt mit ansieht, wie sein Frauchen im Zelt mit ausgestreckten Armen sitzt um die Plane bei dem angreifenden Sturm zu unterstützen 😉.
Wildromantisch schlängelt sich der Pfad durch das Val Vogna entlang eines rauschenden kleinen Bergbaches, eine Rehfamilie steht neugierig 5 Meter neben dem Weg und lugt durch die Äste hindurch. Ich quere mit Mexx Rinderherden, steige immer höher auf an Almen vorbei, bis ich stumm vor einem Bergsee stehe. Tränen treten mir in die Augen, so schön, so unbeschreiblich schön und friedvoll. Ist das nicht ein perfektes Geburtstagsgeschenk? In der Abenddämmerung tanzten die Fische für mich mit knappen Sprüngen aus dem Wasser. Am nächsten Morgen weckte mich stürmischer Wind, der zum Aufbruch mahnte. Drei Pässe galt es zu erklimmen – am letzten erreichten uns die ersten Sonnenstrahlen zum Frühstück 😉☀ und dann hinab in die Gewitterwolken und ins Tal.
Erschöpft, ständig verschwitzt und ausgehungert erreiche ich das Aostatal. Nun muss ich gezwungermaßen die GTA verlassen, denn im Gran Paradiso Nationalpark sind keine Hunde erlaubt. Sehr lange zerbreche ich mir den Kopf aufgrund der schwierigen Lebensmittelversorgung und Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel: Was ist die richtige und sicherste Entscheidung? Zudem muss ich noch bedenken, dass bald ein Freund aus Dresden zu mir stoßen möchte – da kann ich nicht in der hintersten Bergpampa hocken! Ich entscheide mich für die einfachste Möglichkeit, nämlich direkt ins Susatal zu fahren. Dort gibt es auf jeden Fall Supermärkte (die auch offen sind 😉 ) und eine gute Zuganbindung. Die Tage bis zum Treffen werde ich auf den Susatal-Höhenweg verbringen und dann laufen wir zu dritt zwei Wochen weiter bis Pontebernardo. Zu diesem Zeitpunkt ahne ich noch nicht, dass dies für mich die letzten Meter auf der GTA waren (zumindest für dieses Jahr).
Nach zwei Wochen erreiche ich das Aostatal (laut Wanderführer wären es drei Wochen gewesen). Für mich und Mexx war diese Zeit unglaublich anstrengend (Höhenmeter, wenig Essen und teilweise sehr anspruchvolle Wege) und zugleich unglaublich wundervoll. Ich durfte eine Berglandschaft wie aus dem Bilderbuch erleben, noch unberührt von Menschenhand und verlassen von Touristen. Freiheit und Wildheit – das ist das Gefühl tief in meinem Herzen. Ich bin dankbar für dieses Abenteuer, die Kraft und den Mut, die ich aus diesen Erfahrungen schöpfe. Nur zu Beginn traf ich auf einige wenige Mitwanderer, sonst liefen mein Hund und ich durch die Berge, kein Mensch weit und breit…
Nach den Tagen auf der Alta Via Valle di Susa stand für mich fest, dass es eine Trekkingpause gibt. Mexx hinkte einen Tag, weil sich ein Zeh entzündet hat. Die Hitzewelle und Trockenheit machte uns zu schaffen. In Absprache mit Stefan, dem Freund, der spontan und kurzfristig sich entschlossen hatte, uns zu begleiten, änderte ich meine/ unsere Pläne: Mexx bekam Wellnessurlaub und wir Zweibeiner fuhren Klettern nach Finale Ligure, direkt am Meer.
So bin ich zwar nicht meinem Ausspruch treu geblieben: I go to Ventimiglia!, aber dafür habe ich noch mehr vielfältige Eindrücke und Erlebnisse gesammelt und ich bin ganz sicher: Das war die richtige Entscheidung, schon allein dem Vierbeiner zuliebe, der sich wahnsinnig freute, dass er die Wellen nun schon viel eher und top ausgeruht verbellen konnte. 😉
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