Du bist gleichzeitig die Grenze und das Tor in deine eigene Freiheit.
(Laura Malina Seiler)
Das Tian Shan Gebirge (was so viel wie Himmelsgebirge bedeutet), ist ein etwa 2450 km langes und 400 km breites Hochgebirge im Norden Hochasiens. Mit Gipfelhöhen bis zu 7437 m liegt ein Hauptteil dieses Gebirges im wunderschönen Kirgistan. Eine dreiwöchige Radreise / Bikepacking – Tour durch endlose Weiten und raue Bergwelten in Kirgistan – die Tian Shan Traverse mit dem Rad auf rund 1000 km und 13000 Höhenmetern.
Freitag 19. August 2022
Mein Finger fährt auf der Karte entlang, stoppt, während die Wellen sich am Ufer des Issyk-kul Sees brechen. Vögel fliegen tief an der untergehenden Sonne vorbei. Hier sind wir. Der zweite Versuch. Ein Jahr ist es her, dass wir nahezu am selben Ort mit denselben Traum im Gepäck standen. Nur voriges Jahr endete dieser Traum nach wenigen Kilometern mit einem schweren Sturz. Dieses Jahr passierten wir die Unglücksstelle mit angezogener Handbremse, nachdem uns das Taxi am Kesken Bel Pass abgesetzt hat. Die ersten Meter noch wackelig auf den vollbeladenen Rädern, der Kinnbügel für die Unglücksabfahrt in den Helm geklickt. Ich brauche etwas um zu entspannen, um hier anzukommen. Die ersten Kilometer sind anstrengend, da die Straße gebaut wird. Immer wieder müssen wir von der Schlagloch-übersäten Asphaltstraße auf die noch mehr Schlagloch-übersäte Schotterpiste ausweichen und verschwinden fast in den Staubwolken der Lkws. Zum Ende hin wird es ruhiger und ruhiger. Mein Blick schweift nach links zu den schneebedeckten Bergen, nach rechts zum Wasser, einem Meer gleich. Ich schlüpfe schnell in meine Regensachen, um nicht von den Mücken gefressen zu werden. Mit Wellenrauschen und Grillenzirpen kuschele ich mich ins Zelt… die erste Nacht unserer Rad Reise durchs Tian Shan. Ja, jetzt bin ich da. Jetzt kann das Abenteuer beginnen.
Sonntag, 21. August 2022
Gerade hat der Sturm eine kurze Verschnaufpause eingelegt. Erschöpft, hungrig und fröstelnd liege ich im Zelt. Heute früh schleppen wir uns die letzten Kilometern bis auf den Barskoon Pass auf 3819 m. Dort trifft uns ein Sturm, der bis jetzt anhält – nur der Seitwind wandelte sich zum frontalen Gegenwind. Wir kämpfen uns eine Hochebene entlang, hinein in eine schwarze Wolkenwand. Ab und an peitschen Schneegraupel mir ins Gesicht. In einer Kurve steht ein Reiter, vermummt in Armeeklamotten, neben ihm ein Hund. Chai? Tea? fragt er. Wir folgen dem Mann in die Jurte, werden verköstigt mit Brot, Salat und Tee. Den allgegenwärtigen Wodka lehne ich jedoch dankend ab. Minuten später befinden wir uns in einem sturmumtosten langgezogenen Hochtal mit Schafen, Kühen und unzähligen Pferden. Eiskalte Gletscherbäche kreuzen unseren Weg und warten auf eine knietiefe Durchwatung…
Montag, 22. August 2022
Sobald die Sonne unterging und bis in die frühen Morgenstunden flachte der Wind ab und die Temperaturen fielen unter null Grad. Nachts schimmerte weiß neben der hell leuchtenden Mondsichel die Milchstraße. Mit einer Holter-di-Polter-Geschwindigkeit von durchschnittlich 10 km/h querten wir Bäche, umkurvten Schlaglöcher, und wurden durchgeschüttelt, während jemand vor uns die Windmaschine auf höchste Stufe gedreht hat. Ein Teilnehmer des Bikepacking-Rennens „Silk Road Mountain Race“ sagt zu uns: „Always I think I have found the worst road in Kyrgystan. And then I find one even worse.“ Ich hocke unten am Gletscherfluss, pumpe Wasser durch den Filter und bin in Gedanken noch bei unseren letzten Radelmetern. Wir rollen dahin und parallel zu uns galoppiert eine Herde Pferde. Ihr Wiehern schallt durchs Tal. Als ich den Kopf vom milchig trüben Gletscherwasser hebe, blickt mich vom gegenüberliegenden Ufer eine Gruppe Kühe an, bevor sie ihre Mäuler ins kalte Nasse sinken.
Freitag, 26. August 2022
40 km vor der Chinesischen Grenze. Mit klammen Fingern schäle ich meine Füße aus den Schuhen. Meine Zehen? Taube Fremdkörper, in denen so langsam wieder Leben kribbelt, nachdem ich sie in trockene Merinosocken packe. Wie den Rest meines Körpers. Nach Stunden bei Regen, Sturm und Hagel und Donnergrollen, hatten ich und meine (seit gestern vorhandenen) Halsschmerzen genug. Die zwei Schotterpisten Pässe gibt es morgen. Schwarze Wolken hängen in den Bergen. Heißer Tee und Kraft tanken. Nach Sturm und Regen rüttelt der Wind nur noch leicht an der Zeltplane. Hinter uns – in den weißen Gipfeln der fast Fünftausender hängen sie noch. Mit goldener Abendsonne im Gesicht inhaliere ich tief meine letzte Tasse Kräutertee.
Samstag, 27. August 2022
Am Morgen wiehern die Pferde vor wolkenlosen Himmel als wäre nichts geschehen. Nach einer eisigen Nacht machen wir uns auf die nahezu kerzengerade Schotterpiste zum ersten Pass. Ich kämpfe mit Kopfweh, Halsschmerzen und Schnupfen… warum strampele ich erkältet zwei Pässen entgegen – irgendwo im Niemandsland nahe China? Die Zweifel sind vergessen, als wir oben ankommen und eine Herde Pferde vorsichtig an uns vorbei trabt. Oben auf dem zweiten Pass – Gänsehautmoment! Nicht nur wegen eisigem Wind. Wir blicken auf schneebedeckte Berge und hinein ins Terek-Tal, welches von zahlreichen Canyons und von „Gehirnmasse aussehenden“ Bergen durchzogen ist. Dem Höhenrücken folgend erleben wir einen landschaftlichen Höhenflug. Diese Menschenleere, diese Weite, diese beeindruckenden Formationen in grandioser Bergwelt. Das Dröhnen der Stille in meinen Ohren. Die Abfahrt ist so steil und oft lose, dass die Hände schmerzen vom Bremsen. Aufgrund Wassermangel rollen und holpern wir das Tal weiter vor bis in den nächsten Ort. Im Fluss nur ein lehmbraunes Rinnsal. Ich wanke ins Magazin und hole Wasser. Kurz dahinter krabbele ich vollkommen erledigt ins Zelt. Die Sonne verschwindet glühend hinter den Bergen.
Montag, 29. August 2022
Der Sturm jault ums Zelt. Pferde und Kühe flüchten vor dem Gewitter zur Jurte, jetzt umzingeln sie unser Zelt. Netter Versuch für Windschutz, aber ich habe immer noch das Gefühl gleich fliegender Teppich zu spielen – hier auf 3000 m am Son Kul See. Nach 1000 Höhenmeter auf einer schraubenartigen Schotterpiste radeln wir am Moldo Pass (3340 m) durch eine schwarze Wolkenwand. Am See – unser Lager inmitten von Pferden. Ihr Wiehern tönt gegen den tosenden Wind an. Hinter dem nächsten Hügel schimmern die Wolken rosa im nun endlich aufklarenden Himmel. Kurze Zeit später absolute Stille. Oben auf dem Grashügel zeichnen die Pferde schwarze Silhouetten ins Graublau.
Samstag, 3. September 2022
Die Sonne steht schon tief über den Bergen und wirft weiche Schatten auf unser Lager am Fluss. Zwei Punkte markiere ich auf unserer Karte. Dort der große graue Straßenklecks „Bishkek“ – die Hauptstadt Kirgistans. Und hier – wir im braunen Nirgendwo. Dazwischen führt eine dünne gestrichelte Linie mitten durch die Berge – der Kegeti Pass. Gefürchtet und vorgewarnt – noch etwa 1000 steinige Höhenmeter trennen uns von unserem letzten Pass. Vom heutigen Karakolpass – ein letzter Blick zurück in diese endlose Weite, wo sich vereinzelte Jurten hinter Hügelausläufern und in Flussbiegungen verstecken. Nicht ein einziges Auto wirbelte Staub auf. Als wären wir hier oben die einzigen Menschen im Umkreis von 100 km. Der Wind frischt auf und die Sonne schickt ihre letzten Strahlen. Ich klappe die Karte zusammen, wickele mich in meine Daunenjacke für eine erneute kalte Nacht.
Samstag 4. September 2022
Ich stöhne und ächze, stemme mich auf diesem losen Geröll gegen das Gewicht meines Rades, ein Fuß gefährlich nahe an der Abrutschkante, schiebe und ziehe mich nach oben Richtung Kegeti-Pass. Ein riesiger Greifvogel kreist lautlos über uns, während wir uns Stein für Stein, Schritt für Schritt abrackern. Der Pass – die letzten 400 Höhenmeter sind ein einziger abgerutscher Geröllhaufen. Einmal müssen wir zu zweit das Rad schieben, so steil ist es. Oben nach ca. 4 Stunden! Im kalten Wind auf 3800 m angekommen, ein Jeep mit reichen wohlgenährten Insassen fotografiert uns wie Außerirdische. Nach einer langen letzten Abfahrt erreichen wir nach 2 Tagen Bishkek … und stürmen die Dusche. 😉
Weitere Tourenberichte zum Radreisen:
Ulrich Mittring
20 Sep. 2022Hallo Francie, das ist ja mal was! Ich bin immer wieder beeindruckt von deinen wunderschönen Bildern, deinem Schreibstil und vor allem deiner Zähigkeit. So eine Tour ist natürlich grandios und in Europa kaum noch zu finden. Ich glaub ich bin langsam zu alt für sowas.
Wollte mich noch bedanken für deinen Tip mit dem Tragegeschirr für meine Kessy. Diesmal dank richtiger Einstellung der Riemen und dank Hirschtalg keine Probleme mit Scheuerstellen gehabt. Dafür dann mit dem Fuß hinten links. Hab mehrfach an dich gedacht und an die abgebrochene GTA-Tour wegen der Probleme, die dein Hund hatte. Ich hab jetzt einfach umdisponiert und ziehe das Auto alle 3-5 Tage nach. Das hat den Vorteil, dass ich nicht so viel schleppen muss und dass ich Hundefutter etc im Auto vorrätig habe. Nachdem es anfangs regnete und ich tagelang mit nassen Schuhen und Socken auf Wegen mit nassem Gras unterwegs war, ist es jetzt richtig schön geworden. Momentan sitze ich in Rimella am GTA im Hotel Fontana und genieße für ein paar Tage das legendäre abendliche 10-Gänge Menü. Tagsüber dann nur mit leichtem Gepäck auf die Berge kraxeln macht auch mal Spaß und strengt kaum an, wenn man sonst immer mit 10 kg unterwegs ist. Jetzt habe ich noch 10 Tage vor mir und bin schon gespannt, was mich noch so alles erwartet.
Herzliche Grüße
Ulli & Kessy
Francie
27 Sep. 2022Hallo Ulli, ganz lieben Dank für deine Worte! Freut mich, dass ich dir und Kessy weiterhelfen konnte – ich hab die Probleme ja selber durch 😉 . Genau, Mexx hatte im Susa-Tal eine entzündete Zehe, nach 2 Ruhetagen war das geheilt, aber ich hatte genug vom Laufen und ging klettern. 10 Gänge Menü?!?!? Ui, ja das klingt besser als Tütennahrung im Zelt. Und das mit leichtem Gepäck hat natürlich auch Vorteile – hab das jetzt bei meinen Touren in den Dolomiten gemerkt. Auch mal eine Wohltat. Ich wünsche dir und Kessy noch eine super schöne Zeit und gutes Wetter! Viele Grüße, Francie
Vogel Detlef
4 Nov. 2022Haben jetzt auch das Video vollständig gesehen, super Eindrücke und weite Landschaften. Herrlich auch die Pferde. War für Euch sicher ne schöne und anspruchsvolle Tour- ein unvergessliches Erlebnis.
Einfach nur toll!
Francie
10 Nov. 2022Dankeschön! Ja das war es. Selbst jetzt kann ich im Nachhinein gar nicht glauben, das wirklich erlebt zu haben.
Julia
29 Juli 2023Hallo Francie,
vielen Dank für den traumhaften Bericht und das mitnehmen auf die Zeit.
Hast Du die GPS Daten für die Strecke verfügbar und magst diese teilen?
Lieben Dank & viele Grüße
Julia
Francie
15 Aug. 2023Hallo Julia, schau mal hier: https://blog.maiwolf.de/tag/tian-shan/ 😉 Liebe Grüße und viel Spaß!