Panta rhei – Alles fließt…
Der Tagliamento – der König der Alpenflüsse – ist der bedeutendste der letzten Wildflüsse der Alpen. Er weist heute noch jene Eigenschaften auf, die ursprünglich für die Flüsse im Alpenraum charaktergebend waren: ein ausgedehntes Schotterbett mit verzweigten Gerinnen, ein mächtiger alluvialer Grundwasserkörper, massenhaft Totholz und Inselbildungen in allen Entwicklungsstadien. Jedes Hochwasser verändert die Gestalt des Flussbettes; Inseln, Tümpel und freie Schotterflächen werden neu geschaffen. Ein komplexes Mosaik an Lebensräumen entsteht, welches erst die große Vielfalt aquatischer, amphibischer und terrestrischer Organismen ermöglicht, die natürliche Flüsse kennzeichnen.
Auf knapp 1200 m entspringt der Tagliamento am Mauriapass an der Grenze zwischen Venetien (Nordwest) und dem Friaul (Südost), um sich 170 Kilometer lang durch eine einzigartige Bergwelt und später durch eine verzweigte Flusslandschaft Richtung Adria zu schlängeln.
Eindrücke einer Packrafting Tour auf dem Tagliamento. Paddeln mit Hund – von Venzone nach Latisana (76 Kilometer bis Wildwasserstufe 2).
Mit den Worten „Wiedersehen macht Freude“ schließe ich an einem Samstagmorgen die Autotür und marschiere mit Fellnase, einem Packsack und einer blauen Ikeatragetasche voll Zeug Richtung Wasser. Da höre ich ihn rauschen, gurgeln, flüstern. Den König Tagliamento. Mit gehörigem Respekt pumpe ich unruhig das Packraft auf. Kalt ist das Wasser aus den Berge, welche um uns thronen wie Könige. Ich spritze mir um munter zu werden, das klare Nass ins Gesicht. Hallo Tagliamento, lass uns bitte nicht untergehen, murmle ich zurück.
Und sogleich tauchen wir ein in die schnelle Strömung. Wellen klatschen seitlich und frontal in unsere Nussschale. Uns hebt es hoch und wirft es seitlich wie in einer Achterbahn. Ich steuere entgegen, finde eine ruhige Linie. Jippie! Es funktioniert!
Hier auf den ersten Kilometern häufen sich die Hindernisse. Halbwehre, Wehre, Brücken, Sohlschwellen und -stufen. Manchmal stecke ich bis zum Bauch im Wasser beim Versuch an einer doch eher ungeeigneten Stelle anzulanden. Oder wenn beim Treideln die knöcheltiefe Kiesbank auf einmal in ungeahnte Tiefen übergeht. Die Umtragestellen rauben mir ganz schön die Kraft. Viel zu sehr unterschätzt habe ich diese Passagen. Unterschätzt mein Transportgewicht. Überschätzt den Komfort einer Ikeatragetasche über einen Kilometer mit 15 kg auf der Schulter.
Langsam treten die Berge zurück, das Tal weitet sich und der Tagliamento verzweigt sich in unzählige Nebenarme. Blitzschnell muss man entscheiden, welcher Arm am meisten Wasser führt und mit schnellen, kräftigen Zügen noch rasch die Kurve kratzen. Denn im Mittellauf versickert der Tagliamento regelmäßig bei zu niedrigem Wasserstand und man steht kilometerweit in einem ewig breiten Flussbett mit dünnem Rinnsal da. Genauso regelmäßig kratzen wir über die Kiesbänke. In seichten Abschnitten lasse ich Mexx am Ufer nebenher rennen – der Vierbeiner freut sich mal die Gräten zu strecken, genauso wie ich.
Seit halb fünf bin ich schon wach und ich merke die permanente Anspannung. Ausweichen von Baumleichen und Kiesbänken, schnelle Strömung in den Kurven. Von der Seite kommende, türkisfarbene Zuflüsse bieten perfekte Kentergefahr im Übergangsbereich. Es ist halb zwei Uhr nachmittags und nach 50 Paddelkilometer atme ich während der Mittagsrast durch. In meinem Kopf und in meinem Körper schwappen noch die Wellen umher, als würde ich im Sitzen wanken. Starre auf die Kiesel im Sand und genieße es, einige Minuten lang nicht vollkonzentriert bis Anschlag paddeln zu müssen. Keine Entscheidungen, die in Sekundenbruchteilen gefällt werden müssen. Einfach nur dasitzen, während der Vierbeiner sich im Sand wälzt. Wir senden ein Lebenszeichen, dann geht es weiter.
Hin und wieder kann ich mich für ein paar Sekunden treiben lassen, schüttle die verkrampften Hände aus, beobachte zahlreiche Vögel auf den Kiesbänken. In den steilen Prallhängen der sandigen Uferböschung befinden sich viele kleine Höhlen, in denen Eisvögel nisten. Dutzende dieser bunt-schillernden Wesen fliegen über unsere Köpfe hinweg. Drei Schwäne starten schwerfällig und laut schnatternd direkt vor uns. Gegen vier Uhr am Nachmittag lande ich auf einer Sandbank. Zwar ist es nicht mehr weit bis zum Bahnhof in Latisana – welchen wir Sonntagmorgen halb zehn erreichen werden, doch für heute ist Endstation. Die nassen Sachen trocknen. Nackte Haut im Sand, Sonne im Gesicht, der Tagliamento säuselt. Vögel trällern ein Lied. Keine Menschenseele. Wenn ich die Augen schließe, treibe ich noch immer in den Wellen.
Direkt vom Bahnhof Latisana geht es zurück nach Venzone, von dort nach Belluno. Denn da ruft schon der Piave nach uns…
Sehr gute Flussbeschreibung mit Hinweisen zu Hindernissen, Pegel, Befahrungsvideo etc:
Kanuführer – Tagliamento – flusswandern.at
Pegel Venzone: 26 cm
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